KERAMISCHER MASSANZUG FÜR EIN LEUCHTTURM-PROJEKT

Unregelmäßige Lichtreflexionen sorgen dafür, dass die Gebäudehülle überaus facettenreich und je nach Standpunkt, Lichteinfall und Tageszeit immer wieder anders erscheint.

Die Fassade des mitten in Berlin vom Architekturbüro Sauerbruch Hutton konzipierten Wohnhochhauses setzt gestalterische Maßstäbe. Grund ihrer besonderen Ausdruckskraft: die präzise kalkulierte Unregelmäßigkeit, die eine durchaus wahrnehmbare, angenehme Präsenz vermittelt. Verklebt auf einem Wärmedämmverbundsystem besteht sie aus nur drei Keramik-Elementen: einem dreidimensionalen „Spitzriemchen“ in Ockergelb und gedecktem Weiß sowie eigens gefertigten Schenkelplatten für die Gebäudeecken.

Das zentrale Apartmentgebäude fungiert als weithin sichtbare Landmarke

Das neue Quartier „Lehrter Straße“ liegt nur wenige hundert Meter nördlich des Berliner Hauptbahnhofs. Es entstand in den letzten sieben Jahren auf Grundlage eines städtebaulichen Masterplans des Architekturbüros Sauerbruch Hutton und hat eine einstige Brache in ein vitales Wohnquartier mit rund 1 000 Miet- und Eigentumswohnungen verwandelt. Die Architekten entwickelten eine Baustruktur aus sechs- und achtgeschossigen Einzelgebäuden, die sich entlang einer Bahnlinie zickzackförmig aneinanderreihen. Situiert am Quartiersplatz mit Läden und Lokalen, markiert der „Fritz Tower“ weithin sichtbar die geografische und gemeinschaftliche Mitte des neuen Viertels. Das Wohnhochhaus mit teils acht und teils 18 Geschossen beherbergt insgesamt 266 zwischen 21 und 47 m² große Mikroapartments. Darüber hinaus bietet das Haus zahlreiche Annehmlichkeiten wie zum Beispiel einen Concierge-Service, einen Coworking Space, ein hauseigenes Fitnessstudio und ein öffentliches Bistro.

Der Fritz Tower markiert am zentralen Quartiersplatz mit Läden und Lokalen weithin sichtbar die geografische und gemeinschaftliche Mitte des neuen Quartiers Lehrter Straße in Berlin.

Außergewöhnlich ist der Wohnturm nicht nur wegen der möblierten und ausschließlich auf Zeit vermieteten Mikroapartments oder seiner alles überragenden Höhe. Ins Auge fällt vielmehr auch die ockergelbe Keramikfassade, die sich durch ihren unaufdringlichen Glanz schon von weitem klar von den Putzfassaden der Nachbarhäuser abhebt. Wer sich dem Fritz Tower von der Lehrter Straße über den Quartiersplatz nähert, erlebt ein schlankes Hochhaus, das sich mit elegant um die Ecke geführten Fenstern und alle zwei Geschosse wiederholten horizontalen Blechstreifen gleichmäßig in die Höhe entwickelt. „Im angenehmen Kontrast zu diesem Gleichmaß stehen die unregelmäßigen Lichtreflexionen, die der homogenen Gebäudehülle je nach Standpunkt, Lichteinfall und Tageszeit ein immer wieder anderes Erscheinungsbild verleihen“, erläutert Louisa Hutton, Architektin und Mitgründerin des Büros Sauerbruch Hutton. Eine gewisse Leichtigkeit erhält die Fassade auch durch die vielen kurzen weißen Streifen, die sich im Sockelbereich zu langen vertikalen Linien verdichten und so dazu beitragen, das Hochhaus ganz ohne Materialwechsel optisch im Boden zu verankern. Tritt man näher an das Gebäude heran, werden die vertikal angeordneten Keramikriemchen mehr und mehr erkennbar, ein Effekt, der fein differenziert seine Wirkung entfaltet.

Das zentrale Apartmentgebäude fungiert als weithin sichtbare Landmarke

Die Architekten entschieden sich vor allem aus drei Gründen bereits zu Beginn der Entwurfsphase für eine glasierte Keramikfassade. „Zum einen ist das Material robust, widerstandsfähig und pflegeleicht, dies ist gerade im Hochhausbau von Bedeutung, weil es die Zahl der meist nur unter erschwerten Bedingungen durchführbaren Wartungs- und Reinigungsarbeiten minimiert“, sagt die projektleitende Architektin Vera Hartmann. „Zum anderen ist Keramik ein natürliches Material, das im Wesentlichen aus Ton besteht und mit seinen haptischen Oberflächenqualitäten eine wohnliche Wärme vermittelt.“ Letzteres gilt insbesondere für die Riemchen, deren glänzende Glasur Tiefe und handwerkliche Herstellungsprozesse widerspiegelt. Der dritte Grund für die als Spitzprofile ausgebildeten Keramikriemchen liegt im vergleichsweise kostengünstigen Fassadenaufbau: Die dünnen und leicht gewichtigen Elemente bilden den keramischen „Oberbelag“ eines Wärmedämmverbundsystems, das die aktuellen energetische Anforderungen erfüllt.

An den Fassadenflächen kamen lediglich zwei Glasurfarben (Ockergelb und gedecktes Weiß) sowie zwei asymmetrische Typen von Spitzriemchen in zwei unterschiedlichen Abmessungen (97 x 290 und 58 x 290 mm) zum Einsatz. Die einzelnen Reihen laufen mit gleich ausgerichteten Riemchen von unten bis oben, wobei deren „Nasen“ bewusst entweder nach links oder nach rechts zeigen. Allein schon diese Kombination bestimmt das Licht- und Schattenspiel sowie die ausgeprägt plastische Wirkung der Fassade. Die Architekten gingen jedoch noch einen Schritt weiter und ordneten die Spitzprofile im so genannten „wilden“ Verband an, wodurch eine Art „unregelmäßiges Regelmaß“ entsteht. Diese ebenso ungezwungene wie subtil wirkende Ungleichmäßigkeit steht im Einklang mit einem perfekt auf alle Fassadenöffnungen und Gebäudeecken abgestimmten Fugenverlauf. Wie selbstverständlich nehmen die Fugen auch Bezug auf jene horizontalen Blechstreifen, die alle zwei Geschosse als direkte Verlängerung der Fensterbänke die Fassade gliedern. Für die Architektin Vera Hartmann sind diese Bleche keineswegs nur gestalterische Elemente. „Sie unterbrechen vielmehr die vertikalen Riemchenreihen und schaffen auf subtile Weise die Möglichkeit, kleinere Korrekturen im Fugenverlauf vorzunehmen.“ Hinzu kommt, dass sie die potenziell hinter der Dämmschicht entstehende Feuchtigkeit sicher ableiten.

Die facettenreiche, gleichzeitig aber unkomplizierte Keramikfassade erhält eine gewisse Leichtigkeit die Fassade durch die vielen kurzen weißen Streifen

Die glänzende Glasur der Riemchen spiegelt Tiefe und handwerkliche Herstellungsprozesse wider

Im Gebäudeentwurf des „Fritz Tower“ kommt eine Haltung zum Ausdruck, die ein Bild der lockeren Ungleichmäßigkeit generiert und dabei dennoch auf äußerster Präzision basiert. Diesen hohen konzeptionellen Anspruch belegen auch die Gebäudeecken. Deren perfekte Ausbildung war für die Architekten unerlässlich, um den Keramikbelag nicht als dünne, gleichsam nur aufgesetzte Fassadenfläche erscheinen zu lassen, sondern als homogenen keramischen Maßanzug. Deshalb sollten die Riemchen an den Ecken nicht einfach stumpf aneinanderstoßen oder auf Gehrung geschnitten zu einem Eckprofil verklebt werden. Stattdessen entwickelte Sauerbruch Hutton gemeinsam mit dem Hersteller der Keramik Agrob Buchtal asymmetrische Schenkelplatten, die maßlich und ästhetisch zu den Spitzriemchen der Fassadenflächen passen.

Diese eigens hergestellten keramischen Formstücke fungieren als Bindeglied und sorgen für konsequente Materialität, anders als dies beispielweise bei Eckprofilen aus Metall der Fall wäre. Im Sinne der optimalen Umsetzung der Entwurfsideen wurde auch der ockergelbe Fassadengrundton nach den Vorstellungen der Architekten entwickelt. Um die passende Glasurfarbe zu ermitteln, fanden Workshops im Glasurlabor des Fliesenherstellers statt. Diese Workshops mündeten in mehrere Bemusterungen und Versuchsflächen. Letztlich gelang es damit, den Wunsch des Bauherrn nach einer goldglänzenden Fassade in eine Lösung zu übersetzen, die auch ganz ohne direkten Bezug zu diesem Edelmetall elegant, langlebig und hochwertig ist.


Fragen an Vera Hartmann, projektleitende Architektin im Büro Sauerbruch Hutton

Vera Hartmann ist seit 2000 bei Sauerbruch Hutton tätig. Als Projektleiterin betreut und verantwortet sie über alle Leistungsphasen Projekte mit Schwerpunkt im Bereich Wohnungs- und Bildungsbau. Neben dem Planen von Neubauten zählt das Bauen im Bestand und die Innenarchitektur zu ihren Spezialgebieten. Vera ist Partner seit 2020 des Berliner Architekturbüros.

Aus welchem Grund haben Sie sich für eine Hochhausfassade aus Keramik entschieden und wie wurde sie realisiert?

Für uns Architekten ist die Fassadengestaltung immer eine wesentliche Herausforderung im Designprozess. Im Fall des Fritz Towers haben wir lange gesucht, bis wir ein keramisches Element gefunden haben, das unkompliziert in einem Standardformat verwendet werden konnte. Die gesamte Fassade wurde komplett durchgeplant, das heißt, jedes Element wurde in seiner Lage und Position gezeichnet. Daraus wurde gewissermaßen ein keramischer Maßanzug. Jede Fenstergröße ist an die Größe der Keramik angepasst. Wichtig war für uns in diesem Zusammenhang, dass man kein Element schneiden muss. Natürlich sind sie bei den Fensteröffnungen in der Vertikalität geschnitten, aber in der Breite sind sie auf das Gebäude konfiguriert.

Was spricht aus Ihrer Sicht für eine keramische Hochhausfassade?

Drei Gründe waren für uns relevant. Zum einen sollen unsere Gebäude grundsätzlich langlebig sein. Sie sollen robust und wartungsarm sein. Und sie sollen in Würde altern können. Darauf legen wir bei uns im Büro großen Wert. Wichtig ist außerdem, dass die Materialien, die wir verwenden, nachhaltig sind. Und das ist ja bei Keramik immer der Fall. Und ein wichtiger Punkt schließlich, vor allem für den Bauherrn: Was kostet die Fassade? Und da man kann sagen, für ein Hochhaus ist ein Wärmedämmverbundsystem, das keine Putzoberfläche hat, sondern Keramik, eine sehr preisgünstige Methode, um ein solches Gebäude für die Zukunft möglichst ästhetisch, werthaltig und wartungsfrei zu gestalten.

Wurde die Fassade wirklich nur mit Standardformaten geplant?

Nicht ganz. Wichtig sind für uns in diesem Zusammenhang besonders die Gebäudeecken. Wir machen uns darüber auch immer wieder sehr viele Gedanken, denn Ecken sind empfindliche Bauteile, die schnell beschädigt werden können und deshalb mit ausschlaggebend sind für ein gutes Altern des Gebäudes. Deshalb haben wir in enger Zusammenarbeit mit dem Hersteller Agrob Buchtal ein spezielles Eckelement entwickelt.

Welche Rolle spielten Farbe und Form?

Die Tiefe der Farbe ist bei der Keramik ganz anders als bei anderen Materialitäten, die man sonst kennt. Wir haben diese Fliesen aber auch deshalb eingesetzt, weil wir keine glatte Oberfläche wollten. Diese 3D-Keramik eignet sich deshalb sehr gut, weil sie ein wenig reflektiert, zudem ist sie relativ dezent, das heißt, die Form ist nicht besonders massiv, sondern eher subtil. Aus der Ferne sieht man eigentlich gar nicht, dass es eine dreidimensionale Oberfläche ist, sondern erst, wenn man näher kommt. Man könnte sagen, es ist ein subversives Element.


Aus
STEIN.KERAMIK.SANITÄR
Ausgabe 2.2021

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Fotos:
Agrob Buchtal GmbH / Jochen Stüber

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Das „Quartier Lehrter Straße“ wird von der Groth Gruppe (https://www.grothgruppe.de/) unter der Marke „Mittenmang“ (Berliner Umgangssprache für „mittendrin, echt und unverfälscht“) vermarktet. Insgesamt umfasst das Quartier ca. 63 000 ha mit 263 Eigentumswohnungen, 344 Mietwohnungen, 158 geförderte Wohnungen und 266 Mikroapartments im „Fritz Tower“, um die es in unserem Beitrag geht. Zur Verfügung stehen hier Studios, Ein- oder Zwei-Zimmer-Apartments. Geplant wurde der Tower von Sauerbruch Hutton (http://www.sauerbruchhutton.de/de/). Die Fassadenbekleidung erfolgte als Wärmedämmverbundsystem der Alsecco GmbH (https://www.alsecco.de/) mit geklebten glasierten Feinsteinzeugplatten vom Typ „Craft“ von der Agrob Buchtal GmbH in zwei unterschiedlichen Abmessungen (97 x 290 und 58 x 290 mm) und zwei Glasurfarben (Ockergelb und gedecktes Weiß): https://agrob-buchtal.de/de/architekt-planer.

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INFO:

Ein Mikroappartement oder Mikroapartment, international auch als Microflat bezeichnet, ist eine in sich geschlossene, kleine Einzimmerwohnung. Typischerweise bieten sie auf ca. 14 bis 32 Quadratmetern Platz für Wohn- und Schlafraum, ein Bad und eine Küchenzeile. Im Gegensatz zu einer traditionellen Studiowohnung können die Bewohner auch Zugang zu einer gemeinschaftlich genutzten Küche, einem Bad oder einer Dusche, einer Terrasse und einem Dachgarten haben.
Der Wohnungsmarkt in deutschen Großstädten ist angespannt. „In weiten Teilen des Landes fehlen kleine, bezahlbare Wohnungen“, bestätigt Ulrich Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes. So steigt zwar die Nachfrage nach Mikroapartments seit einigen Jahren kontinuierlich, doch Ein- bis Zwei-Zimmer-Wohnungen machen derzeit gerade einmal zehn Prozent des gesamten Immobilienangebots aus. Wie bereits in London und New York muss sich auch der deutsche Wohnungsmarkt an die wachsende Nachfrage nach Mikroapartments anpassen.
Die Nachfrage wird auch in den nächsten Jahren steigen. Zum einen, weil es immer mehr Ein-Personen-Haushalte gibt  mittlerweile machen sie 40 Prozent aller Haushalte in Deutschland aus, zum anderen, weil die Zahl der Studenten wächst. Außerdem suchen nicht nur deutsche Studierende eine kleine Wohnung. Hinzu kommen auch immer mehr ausländische Hochschüler: Mittlerweile absolvieren über 300 000 Gaststudenten hierzulande ein komplettes Studium oder zumindest ein Auslandssemester. Das ist etwa jeder neunte Immatrikulierte in Deutschland. Auch immer mehr Rentner und Berufspendler mit befristeten Arbeitsverträgen werden auf die kleinen Wohnungen aufmerksam. Für letztere sind Mikroapartments als Zweitwohnung am Arbeitsort interessant, die schon komplett ausgestattet sind und deshalb wenig Arbeit bereiten. Aber auch Berufstätige, die gelegentlich für das Unternehmen verreisen müssen, buchen immer häufiger Mikroapartments.


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